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Der heilige Kampf oder Die Arroganz der Gesättigten

Autor Veit Lindau
Datum 01 Jun 2017
Die Arroganz der Gesättigten oder der heilige Kampf Blog Veit Lindau

Wohlwissend, dass ich selbst im geschützten Glashaus sitze, möchte ich heute einen Stein des Nachdenkens in unsere wohlbehütete psychospirituelle Szene werfen.

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Wohlwissend, dass ich selbst im geschützten Glashaus sitze, möchte ich heute einen Stein des Nachdenkens in unsere wohlbehütete psychospirituelle Szene werfen.

 width=Was mich leise unangenehm berührt und manchmal auch eine Mischung aus Empörung und Scham in mir auslöst, sind Floskeln, über die ich leider häufig stolpere, wie…

„Anstrengung ist eine Illusion. Wer noch kämpft, ist von gestern. Wahrheit kämpft nicht. Folge der Liebe und alles geschieht ganz leicht. Gib dich einfach nur hin. Vertrau dem Fluss des Lebens. Nur wenn es sich einfach ergibt, ist es richtig. Blablabla…“

Glaub mir, ich wünsche mir Weltfrieden. Ich genieße auch die Flow-Phasen, in denen alles ganz easy-peacy geschieht. Ich kann auch den Wunsch verstehen, dass es doch bitte immer so geschmeidig laufen sollte. Ich finde es ebenfalls wichtig, uns dauergestresste Leistungsgesellschafter immer wieder ans Durchatmen zu erinnern. Doch daraus ein allgemein gültiges Lebenskonzept zu stricken und milde-herablassend alle auszulächeln, die noch nicht dauergrinsen – auf die Idee kann nur jemand kommen, der in einer arschbequemen-wohlbehüteten Komfortzone lebt, ein relativ kleines, nach außen abgeschottetes soziales Umfeld hat und keine Nachrichten schaut.

Diese „Alles ist mit Liebe und Licht zu lösen“-Einlullphrasen sind Stilblüten einer privilegierten Oberklasse der Menschheit, die seit langem im Frieden lebt und schon so viel liberalen Humanismus inhalierte, dass sie vergessen hat, wie es den restlichen 95% der Menschheit geht.

Vor kurzem verwendete meine Frau in einem Post die Formulierung „heiliger Kampf“. Auch da gab es prompt mahnend-belehrende Erinnerungen, dass es heute nicht mehr darum gehen könne zu kämpfen. Ich verstehe, dass die Kombination heilig + Kampf in Zeiten des weltweiten Terrorismus auch negative Assoziationen auslösen kann. Doch nur weil Menschen das Wort heilig für einen Kampf missbrauchen, der zerstört, ist es per se nicht schlecht.

Von seiner Herkunft bedeutet heil = ganz. Ein guter Kampf ist nicht gegen etwas gerichtet, sondern wird für etwas Heiliges geführt. Er dient der Heilung, der Ganzwerdung eines Einzelnen oder eines Systems. Ich weiß nicht, in welcher Welt die leben, die behaupten, wir bräuchten keinen Kampf mehr. In jener, in der ich unterwegs bin, kämpfen Menschen noch.

Zurecht.

Viele meiner Klienten und Leser*innen der Bücher kämpfen einen heiligen Kampf. Der eine mit seiner Alkoholsucht, die andere mit ihrer Depression und der damit verbundenen Dunkelheit. Diese Herausforderungen lassen sich nicht mit netten Affirmationen in den Griff bekommen.

Die Frau, die ihre gesamte materielle Existenz aufs Spiel setzt, um sich und ihre drei Kinder aus dem Einfluss ihres gewalttätigen Ehemannes zu befreien, kämpft einen heiligen Kampf.

Eine gute Bekannte kämpft seit vielen Jahren einen mutigen heiligen Kampf gegen ihre Psychosen und ihr Anrecht auf ein normales Leben.

Bei uns gehen tagtäglich Nachrichten solcher Einzelschicksale ein. Oft in einer Dimension, dass es sich absolut verbietet, auch nur einen klugen Spruch zu bringen.

 width=Lynne Twist, die ich gerade interviewen durfte, kämpft seit über 30 Jahren gegen den Hunger auf der Welt.

Die Indianerstämme im Amazonas kämpfen seit vielen Jahren im Dschungel an vorderster Front, mit allen friedfertigen Mitteln gegen die Ölfirmen. Ein heiliger Kampf für die grüne Lunge dieser Erde, der nicht nur mit stillen Meditationen zu lösen ist.

Meine Frau hatte gerade die Ehre, einige Tage mit fünf Nobelpreisträgerinnen und ca. 40 weltweit aktiven Aktivistinnen zu verbringen. Ihre Berichte haben mich sehr, sehr nachdenklich und ehrfürchtig still werden lassen, angesichts dessen, was Menschen in anderen Regionen dieser Erde auf sich nehmen, um sich einen Bruchteil der Freiheit zu erkämpfen, die für uns so selbstverständlich ist.

 width=Von vielen dieser Frauen wirst du bei uns selten etwas hören. Dabei wäre es so wichtig. Nur ein Beispiel: MAJD CHOURBAJI, Syrierin, leistet gewaltlosen Widerstand in ihrem Land und ist die Gründerin von BASAMAT. 2012 wurde sie dafür verhaftet und sieben Monate lang inhaftiert. Diese Zeit verbrachte sie mit 20 weiteren Frauen in einer Zelle von wenigen Quadratmetern. Sie konnten nicht alle gleichzeitig liegen. Also standen die meisten, während die anderen schliefen. Sie durfte in der gesamten Zeit zweimal duschen. Ihr Mann wurde vor ihren Augen gefoltert, um herauszufinden, wo die drei kleinen Kinder (2, 4, 7) versteckt waren. Als sie es den Folterern verriet, wurde ihr Mann vor ihren Augen getötet und die Kinder inhaftiert. Sie spricht ruhig, ganz ohne Hass von dem, was sie erlebt hat. Sie kämpft für das, was ihr heilig ist. Ohne Gewalt. Jeden Tag. Heute lebt sie im Libanon, ihre Kinder in Schweden. Sie sieht sie einmal im halben Jahr.

Meinst du nicht auch, es wäre Hohn, einem solchen Menschen vorzuschlagen, das ließe sich alles auch ohne Kampf lösen?

Für mich ist dies keine moralische Diskussion, sondern eine Überlegung des einfachen Anstands. Wir können nichts für unseren Wohlstand, unsere Sicherheit, unsere momentane Gesundheit. Wir dürfen diese Gaben genießen. Doch sollten wir sie nicht auch als eine Verpflichtung ansehen?

Wenn die durchaus wertvollen Einsichten und Erfahrungen unserer psychospirituellen Szene nicht auch positive Wellen in die dunklen Ecken unseres Planeten tragen, bekommen sie für mich einen lächerlich-tragischen Geschmack.

So lange Angst und Liebe, Gier und Großzügigkeit in den meisten von uns ringen,

so lange Männer Frauen unterdrücken (und manchmal auch umgekehrt),

so lange es Süchte und Krankheiten gibt, die unsere komplette Existenz vernichten können,

so lange so viele Menschen existentielle Not erleiden,

solange sich einige verirrte Geister auf Kosten vieler bereichern und dabei unvorstellbares Leid anrichten,

so lange wird und muss es auch einen heiligen Kampf geben.

Nicht gegen.

Für.

Für das Leben. Für Würde. Für Freiheit.

Selbst wenn wir – verweichlicht durch (zu viel?) Komfort – vielleicht gar nicht mehr wissen, wie es sich anfühlt, für etwas Heiliges zu kämpfen, sollten wir jene, die es tun, achten. Das Mindeste, was wir ihnen schulden, ist, auf platte Phrasen zu verzichten, hin und wieder still zu werden und uns zu fragen:

Wie können wir den heiligen Kampf für das Leben – dort, wo wir stehen – am besten unterstützen?

Ich habe darauf nicht immer eine gute Antwort parat. Aber die Frage hält mich wach. Sie treibt mich um. Ich möchte in dem Frieden, den wir hier genießen, nicht einschlafen.

Ich möchte und muss ihn so wach wie möglich nutzen.

Und du?

Mit nachdenklichem Gruß,

Veit

PS: Und das Wunder ist das gelebte Paradox. Tief in dir immer mehr im Frieden anzukommen, die Vollkommenheit im Schlamm zu entdecken und dich gleichzeitig im Außen vom Druck und Drängen der Evolution berühren und bewegen zu lassen.

PS 2: Anbei ein kurzer Auszug aus unserer letzten Ausbildung. Passt dazu.