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Die Arroganz der Machtlosen

Veit Lindau mit Michelle Obama

Veit Lindau sitzt im Schneidersitz

Warum Menschen, die keinen oder wenig Einfluss auf das Geschehen nehmen, häufig und gern in die Falle der Arroganz tappen.

Arroganz kommt von lateinisch arrogāns → la „anspruchsvoll, anmaßend“. Steht auch für: anmaßend, eingebildet, herablassend, selbstgefällig, überheblich.

1. Vorwarnung

Der Artikel wird lang. Nichts für dich, wenn du es gerade eilig hast.

2. Vorwarnung

Wahrscheinlich werde ich damit auch einige empörte Follower verlieren, weil der Text provozieren kann. Ich nehme das in Kauf. Ich möchte das stereotype Schwarz-Weiß-Denken erschüttern, das im Augenblick so viele Diskussionen in unserer Gesellschaft vergiftet.

Ich lade dich ein, diesen Artikel offen und neugierig zu lesen und selbstkritisch zu schauen, wo und wie er dich berührt. Ich nehme mich selbst nicht aus. Auch ich tappe hin und wieder noch in die Falle der Arroganz der Machtlosen.

Veit Lindau mit Michelle Obama

Veit, wie kannst du nur!

Der Auslöser für diesen Text liegt bereits einige Monate zurück. Ich hatte im April die Gelegenheit, zwei Menschen, die ich sehr schätze, zwar kurz, aber endlich live zu begegnen – Michelle und Barack Obama. Darüber berichtete ich damals und kassierte aufrichtig erstaunt einen Shitstorm, wie ich ihn aus unserem Netzwerk normalerweise nicht kenne. Tenor: “Wie kann ich es wagen, Sympathien für die Obamas zu zeigen und das auch noch öffentlich?”

Andrea und ich nehmen solche Phänomene ernst und lernen gern dazu. Also fragten wir nach, was denn das Problem sei. Ich werde hier nicht alle Punkte auflisten. Im Kern waren es die Vorwürfe, er wäre ein Kriegstreiber gewesen, hätte Drohnenangriffe befürwortet,… bis hin zu rassistischen Verschwörungstheorien.

Falls du zu denen gehörst, die jetzt bereits eine Schnappatmung bekommen, möchte ich dir freundlich zurufen: Bitte atme tief durch und versuch, in den kommenden Worten wirklich das zu lesen, was ich sagen will und nicht das, was du erwartest.

Denn in diesem Text geht es mir nicht um das Postulieren eines eindeutigen Urteils über die Obamas – “Sind die nun gut oder schlecht? Kommen sie in den Himmel oder nicht?”
(Wenn dich interessiert, warum die beiden mich inspirieren, findest du am Ende eine kurze Erklärung.)

Nein. Es geht mir um dich und mich.

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Zum Beispiel um die Arroganz unseres Rechthabens

Woher beziehen wir heutzutage unsere scheinbar so felsenfesten Meinungen?

Wenn du innerlich den Stab über einem Menschen brichst, auf welche Fakten beziehst du dich dabei?

Aus welchen Quellen stammen diese Fakten? Bist du dir 100% sicher, dass sie echt, neutral und umfassend sind?

Bist du dir darüber bewusst, dass die meisten Menschen heutzutage in unsichtbaren Meinungsblasen existieren, in denen sie zum Beispiel über Facebook oder Youtube nur noch einseitige und zum Teil stark verzerrte Informationen zugespielt bekommen?

Bist du dir ganz sicher, dass dies bei dir nicht der Fall ist?

Oder – mal ganz ehrlich – ist es dir sch…egal, ob die Fakten stimmen, Hauptsache, du kannst mal wieder Druck abbauen?

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Unsere Beziehung zu Macht bzw. Machtlosigkeit

Wie gehen wir mit Macht bzw. Machtlosigkeit um?

Mal angenommen, du kennst wirklich die Fakten, woher bist du dir so sicher, dass du anders, besser, weiser gehandelt hättest, wenn du in derselben Verantwortung gelandet wärst wie dieser Mensch?

Ist es nicht verdammt einfach, aus weiter Entfernung altkluge und stark vereinfachte Ratschläge zu geben, solange wir sicher sein können, niemals die echte Verantwortung dieser Macht zu tragen?

Keine oder wenig soziale, ökonomische oder politische Macht zu haben, kann sehr frustrierend sein. Doch es hat auch Vorteile. Du brauchst dann nämlich keine unbequemen Ent-Scheidungen zu treffen. Du bleibst ein Saubermann, eine Edelfrau. Denn du machst dich an dieser Stelle – im Gegensatz zu anderen – nicht karmisch dreckig.

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Die Angst vor Macht und Verantwortung

Ich habe in den letzten 25 Jahren viele tausend Menschen auf ihrem Weg zu Erfolg gecoacht. Für mich ist dabei überdeutlich klar geworden, was für viele eine der Haupt-Blockaden auf dem Weg zu Erfolg darstellt – die Angst vor Wirk-Kraft. Wer nur träumt, verpasst zwar viel, macht aber keine Fehler. Erfolg – egal in welchem Bereich – bedeutet auch, mehr Macht anzunehmen. Mehr Macht bedeutet, stärker zu wirken. Wer stärker wirkt, wird nie nur gewinnen. Er wird auch daneben greifen, Fehler machen, verlieren.

Dieser Planet ist eine duale Dimension der Realität.

Das heisst, du kannst hier keinen neutralen Schritt setzen. Für jedes weiße Pferd, dass du in Bewegung setzt, rennt auch ein schwarzes Pferd los. Alles wirkt in sehr komplexen Zusammenhängen aufeinander ein. Du weißt nie, wie sich deine nächste Entscheidung auf Alles auswirkt. Es gibt keine 100% moralisch saubere Handlung, die von allen begeistert aufgenommen wird und auch noch Jahre später garantiert nur positive Nachwirkungen hat.

Wer in dieser Welt Macht in die Hand nimmt, riskiert, dass er dreckig wird.

Manchmal, weil wir es nicht besser wissen. Weil wir nicht alle Zusammenhänge überschauen. Oder weil uns die Power der Macht auf unerwartete Weise korrumpiert. Und häufig einfach deshalb, weil es die wunderbar rosarote Lösung, die alle happy macht, nicht gibt. Shit!

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Ein persönliches Beispiel, bei dem ich dies deutlich erfahren durfte. Als unser Kater Gandhi an Krebs erkrankte, hatte ich keine Möglichkeit, ihn nach seinen Schmerzen oder Wünschen zu fragen. Wir sahen, dass er litt und wir mussten entscheiden, ob und wann wir ihn einschläfern lassen. Ich habe mich mit dieser Entscheidung über Leben und Tod furchtbar schwer getan. Doch irgendwann realisierte ich, dass es nicht nur Mitgefühl, sondern vor allem Feigheit war, eine so existentielle Verantwortung zu übernehmen und niemals 100% sicher zu wissen, ob es richtig war.

Einige Gedankenexperimente für deine Selbstreflexion

Fall 1

Stell dir vor: Du bist plötzlich über Nacht der Präsident oder die Präsidentin der Vereinigten Staaten geworden. Man reißt dich früh aus dem Bett und informiert dich darüber, dass Terroristen im Jemen einen Anschlag auf ein Dorf planen.

Option A. Du tust nichts. Die Dorfbewohner sterben. Option B. Du schickst eine Drohne. Mit dem Risiko, dass unschuldige Einheimische getroffen werden. Option C. Du schickst die Marines rein, mit der Wahrscheinlichkeit, dass sie getötet werden.

Nein. Es gibt leider keine Option, aus der Sache unschuldig herauszukommen. Irgendjemand wird dich danach hassen und der Meinung sein, du hast falsch entschieden.

Fall 2

Stell dir vor: Du bist plötzlich über Nacht plötzlich ein Soldat geworden. Man stellt dich vor die Wahl.

Option A. Mit der Waffe nach Afghanistan zu gehen und Schulen zu beschützen, in denen endlich Mädchen und Frauen Schreiben lernen können. Risiko: Du wirst eventuell Menschen töten und die Bilder werden dich dein Leben lang verfolgen.

Option B. Du beendest den Job und wirst Friedensaktivist. Du tötest niemanden mehr. Risiko: Taliban überfallen die Schule, die du beschützt hättest.

Fall 3

Stell dir vor: Gerade warst du noch knapp bei Kasse. Wusstest aber genau, was du alles Gutes tun würdest, wenn du viel Geld hättest. Über Nacht gewinnst du 10 Millionen Dollar. Plötzlich hast du sehr viele Optionen.

Du kannst dir davon ein tolles Haus bauen und sicherstellen, dass du nie wieder arbeiten musst.

Du kannst davon mehr als 3000 Kinder in Entwicklungsländern 10 Jahre lang ernähren.

Du kannst aber auch 10 Menschen eine superteure Krebstherapie finanzieren.

Du kannst wertvolle Projekte unterstützen. Leider weißt du nicht, welches Investment langfristig welche Wirkung erzielt. Und wo auch immer du dein Geld hingibst, es wird Menschen geben, die von dir enttäuscht sind.

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Es ist leicht, von der Zuschauer-Bühne aus Ratschläge zu geben

  • Mehr Informationen als andere zu haben ist Macht.
  • Stärker zu sein ist Macht.
  • Ein politisches Amt ist Macht.
  • Ein Unternehmen zu führen ist Macht.
  • Waffen sind Macht.
  • Geld ist Macht.

Macht bedeutet mehr Wirk-Power bedeutet mehr Verantwortung. Verantwortung birgt immer das Risiko, Fehler zu begehen.

Für meinen Geschmack machen es sich heutzutage viel zu viele Menschen in der Nische der (scheinbaren) Machtlosigkeit bequem und schießen von hier arrogant mit plakativen Verurteilungen auf die, die da draußen mitten auf dem Spielfeld stehen. Sich schnell einmal zu empören ist für unser Gehirn viel attraktiver, als Part der Lösung zu sein. Das Letztere verbraucht nämlich wesentlich mehr Energie.

Hör auf, arrogant über Menschen und Situationen zu urteilen, die du nicht erlebt hast. Schweig oder mach es besser.

Mal ganz ehrlich, wie oft meckerst du über Menschen und ihre Entscheidungen, ohne die ganzen Umstände zu kennen bzw. je in einer ähnlichen Situation gewesen zu sein?

Haben wir nicht alle als Kinder “gewusst”, was unsere Eltern alles falsch machen, bis wir selbst Eltern wurden?

Als Schüler „wussten“ wir, was alles falsch am Schulsystem ist und wie wir es verändern würden, wenn wir die Lehrer wären.

Als Angestellte maulen wir über Unternehmer, ohne je ihre Perspektive der Verantwortung eingenommen zu haben. 

Und natürlich „wissen“ wir auch, was Politiker alles falsch machen.

Wie oft schauen wir später, wenn uns das Leben selbst in diese Position bringt, verschämt auf unsere flachen Urteile zurück?

Ich habe in meiner Rolle als Vater viele Fehler gemacht, für die ich meine Eltern verurteilt hätte. Ich liege als Lehrer und Lehrer lange nicht immer richtig und finde den besten Ton. Seitdem ich auch ein Unternehmer bin, denke ich oft schmunzelnd an den jungen Veit zurück, der ganz genau wusste, was „die da oben“ falsch machen.

Wie ist es bei dir?

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Der Flächenbrand der Empörung breitet sich im Internet wesentlich schneller aus als eine fundiert und sachlich geführte Diskussion.

Ein vernichtendes Urteil über eine machtausübende Person ist verführerisch einfach gefällt – ganz im Gegenteil zur gründlichen Beschäftigung mit der Frage

Wie könnte ich selbst ein wirksamer Part der Lösung sein?

Wenn du bis hierher gelesen hast, verstehst du hoffentlich, dass ich nicht sagen möchte: “Lasst die doch alle machen!” Alle Menschen mit Macht müssen hinterfragt werden. Und natürlich sollten wir sie herausfordern, wenn wir Machtmissbrauch erleben.

Aber hör auf, herum zu meckern. Damit verpulverst du deine Lebensenergie auf fremden Baustellen. Wenn du etwas siehst, von dem du glaubst, es gehe besser, agiere wie ein reifer Mensch und investiere deinen Gehirnschmalz in die Fragen:

  • Welches Problem genau löst Empörung in mir aus?
  • Welche Gefühle deckele ich mit Empörung – z.B. Ohnmacht und Angst?
  • Beruhen meine Reaktionen auf langsamen, konstruktiv-kritischen Denken oder auf schnellen, intuitiv erzeugten Emotionen?
  • Bin ich bereit, meine Energie von fremden Baustellen abzuziehen und mehr Verantwortung (= Macht) zu übernehmen?
  • Wie könnte ich meine Selbstwirksamkeit stärken und in die Lösung des Problems einbringen?
  • Was könnte jetzt sofort ein konkreter, pro-aktiver Schritt in diese Richtung sein?

Konzentriere deine persönliche Macht in dir.

Paare sie mit einem mitfühlenden Herzen und einem nüchternen Geist.

Übernimm mehr Verantwortung für das, was auf dieser Erde passiert.

Wir alle sind fehlbar. Doch noch nie war so deutlich wie heute, dass die nächste Revolution nicht von oben kommen wird, sondern von unten. #

Von Millionen Menschen mit einer guten Absicht, die bereit sind, dafür aufzustehen und Fehler zu machen.

Komm aufs Spielfeld, du wirst gebraucht.

Wir beide müssen nicht in allem übereinstimmen, um gemeinsam die Welt verändern zu können.

Bist du dabei?

Mit herzlichem Gruß, dein Veit

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Extra – Warum ich wähle, mich von den Obamas inspirieren zu lassen

Vorab: Wenn ich Menschen als Inspirationsquelle wähle, dann nicht aus blinder Bewunderung heraus. Ich rechne immer mit der Möglichkeit, vielleicht doch ent-täuscht zu sein, wenn ich diese Personen näher kennen lernen sollte.

Michelle und Barack Obama inspirieren mich nicht, weil ich denke, er wäre ein perfekter Präsident gewesen und es wäre nicht noch mehr möglich gewesen. Das kann ich gar nicht einschätzen. Dafür weiß ich aberwitzig wenig über alle Hintergründe.

Die beiden Obamas inspirieren mich,…

  • …weil ich viele ihrer Reden gesehen bzw. gehört habe und mir nach 25 Jahren Arbeit mit Menschen zutraue, herauszuhören, ob jemand aus seinem authentischem Selbst spricht und es gut meint oder eine Nummer durchzieht bzw. demagogisch agiert. Diesen beiden nehme ich 100% ab, dass sie nicht erst im weißen Haus, sondern viele Jahre davor schon angetreten waren, um etwas Gutes in diese Welt zu bringen.
  • …weil ich aus integraler Sicht und Perspektive der Spiral Dynamics eine Ahnung von der Herausforderung habe, als erstes schwarzes Paar im weißen Haus in einem Land voller Widersprüche und Zerrissenheit vereinend und brückenbauend aufzutreten. Und das haben sie getan.
  • …weil ich in ihrer Amtszeit eine bis dahin nie dagewesene Zahl von deutlichen Zeichen, Gesten, Bildern, Handlungen beobachtet habe, die mir ein klares Gefühl für ihr wahres Anliegen und ihr visionäres Mindset vermittelt haben.
  • …weil ich aufmerksam beobachtet habe, welchen Weg sie seit dem Ende der Präsidentschaft eingeschlagen haben (siehe Obama Foundation).
  • …weil ich zutiefst bewundere, wie langfristig sie denken und wie stark sie die jungen Generationen in Eigenmündigkeit unterstützen.
  • …weil sie für mich ein enorm starkes Vorbild für eine neue Form von Führung sind, die empowered und nicht unterdrückt.
  • …weil ich sie persönlich erlebt und gespürt habe,
  • …weil ich ihre Geschichte gelesen habe und sehe, wie sie mit ihrer gesamten Familie umgehen.

Und vielleicht lieg ich völlig falsch, doch sie inspirieren mich, meine Macht noch bewusster und dienender wahrzunehmen.

Tipps für mehr Selbstverantwortung